Interview mit Helga Deppe-Wolfinger

Wie bist du zur integrativen Pädagogik gekommen?

Studium

Um diese Frage zu beantworten, muss ich ein Stück weit biografisch ausholen. Ich habe in den 1960er Jahren Soziologie, Politik und Pädagogik in Marburg studiert. Von dem Studium der Soziologie versprach ich mir, die Welt besser verstehen zu lernen. Nicht den einzelnen Menschen, sondern die Welt, wie alles miteinander zusammenhängt, wie Menschen miteinander umgehen, welche Strukturen eine Gesellschaft ausmachen, welche Wirkung Geschichte hat. Mein Studium fiel in die Zeit der Studentenbewegung, in der wir uns ganz praktisch engagierten, um die Welt zu verbessern oder zu verändern, sei es, um die Hochschulen zu demokratisieren, Notstandsgesetze zu verhindern oder das kleine vietnamesische Volk in seinem Kampf gegen die Großmacht USA zu unterstützen. Außerdem arbeitete ich in der gewerkschaftlichen Jugendbildung der IG-Metall und des DGB mit, lernte aus der Kooperation mit jungen Lohnabhängigen in den Betrieben mehr über den Zusammenhang von Kapital und Arbeit als im Studium möglich. Über gewerkschaftliche Jugendbildung habe ich dann auch promoviert, sie stellte schließlich die Brücke dar, die mich nach Frankfurt in die Sonderpädagogik führte.

Einrichtung eines Studienganges für Sonderpädagogik

Die Sonderpädagogik wurde an der Goethe-Universität in Frankfurt Anfang der 1970er Jahre als grundständiger Studiengang etabliert. Bis dahin gab es Sonderpä­dagogik nur als viersemestriges Zusatzstudium für RegelschullehrerInnen in Marburg. Initiatoren in Frankfurt waren der Sozialpädagoge und Auschwitz-Überlebende Prof. Simonsohn und sein damaliger Assistent Helmut Reiser, der eine der ersten Professuren in der Sonderpädagogik übernahm. In den Gründungsjahren setzte sich bei ihm und den bis dahin berufenen Kollegen Leber und Iben die Erkenntnis durch, mit Sonder- und Sozialpädagogik alleine werden wir unserer Klientel, den Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, Verhaltensproblemen und/oder mit milieubedingten Lernschwierigkeiten nicht gerecht. Was wir brauchen, ist ein psychologischer beziehungsweise psychoanalytischer Zugang einerseits und ein soziologischer Zugang andererseits. Ersterer war durch die bereits besetzten Professuren abgedeckt, der soziologische fehlte noch. Also wurde eine entsprechende Professur ausgeschrieben.

Professur mit dem Schwerpunkt Soziologie der Behinderten

Ich habe mich auf die Stelle »Soziologie der Behinderten« – so hieß die Stelle damals – beworben, weil die Frankfurter sagten, du hast dich mit Arbeiterjugendlichen beschäftigt, wir haben als Schwerpunkt Lernbehindertenpädagogik, das sind Leute aus der Arbeiterklasse, aus dem Lumpenproletariat, aus randständigen Milieus, wie auch immer man das zu den verschiedenen Zeiten benannt hat, bewirb dich darauf. Ich habe mich beworben und wurde berufen. Von Anfang an hatte ich Skrupel, Studierende für die Sonderschule auszubilden. Es kann doch nicht sein, so meine Überzeugung, dass es für einen Teil dieser Gesellschaft ein abgegrenztes isoliertes Schulwesen gibt, quasi eine Schule für das Proletariat. Ich habe mich dann gründlich mit Lernbehindertenpädagogik befasst und war ganz verblüfft, wie lange die Tradition in Deutschland schon bestand und wie sich diese Schulform verfestigt hatte. Sie, wie das gegliederte Schulwesen insgesamt, entsprachen vordemokratischen Bildungsvorstellungen, nach denen Schulen die Aufgabe zufiel, SchülerInnen nach Begabung und Bedarf auf dem Arbeitsmarkt in verschiedene Schulformen zu sortieren. Spätestens seit PISA wissen wir, dass der Zusammenhang von sozialer Lage und Schulerfolg in Deutschland besonders eng ist: je niedriger die Schulform umso schlechter die schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen. Hieran hat sich bis heute wenig geändert. Ich war schon bei meiner Berufung auf die Professur an der Goethe-Universität der Meinung, dass auch die Kinder aus randständigen Milieus in die Mitte der Gesellschaft gehören, und damit in eine Schule, in der alle Kinder gemeinsam lernen können. Auch in der beruflichen Bildung bestand erheblicher Nachholbedarf in Bezug auf reguläre Ausbildungen in Handwerk und Industrie.

Schulreformen
im Ausland

1975 habe ich die Professur in Frankfurt angetreten. Zwei Jahre später erreichte uns aus dem Ausland die Kunde, dass sich in vielen Ländern Europas das Schulwesen erneuert, es wurden Gesamtschulen gegründet und ausgebaut, also Schulen für alle Kinder, unabhängig von Schicht- oder Klassenzugehörigkeit. Auch in Deutschland (West) entstanden erste Gesamtschulen, um die ein heftiger Schulkampf entbrannte. Im Unterschied zu anderen Ländern wurden sie bei uns nicht zur vorherrschenden Schulform, sondern zur fünften oder sechsten Säule, je nachdem wie man zählt, neben Grundschule, Hauptschule, Sonderschule, Realschule und Gymnasium. In Ländern wie Italien und den skandinavischen Ländern wurde die Gesamtschule demgegenüber zur Regelschule ausgebaut. Dort lernten Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien fortan mit allen anderen zusammen. Ich selber war mehrmals in Italien, später auch in Finnland, um mich von den dortigen Erfahrungen inspirieren zu lassen.

Das war jetzt ein Blick zurück in die Vergangenheit.

Das heißt, dein Interesse war zuerst auf die Schüler mit Förderbedarf Lernen aus Armutsverhältnissen gerichtet?

Kritik der
Sonderschule für
Lernbehinderte

Ja. Ich wollte begreifen, warum es eine Schulform gibt, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse festgeschrieben werden, anstatt sie über Bildung zu demokratisieren. Seinerzeit erschienen auch die ersten kritischen Bücher über die Sonderschule für Lernbehinderte, so zum Beispiel Aab, Pfeifer, Reiser & Rockemer Sonderschule zwischen Ideologie und Wirklichkeit (München, 1974) oder Kritik der Sonderpädagogik (Gießen, 1973). Die Autoren hatten schon damals herausgefunden, dass diese Schulform, die extra für lernschwache Kinder kreiert worden war und mit kleineren Klassen gearbeitet hat, nicht sehr effektiv in der Förderung der ihnen anvertrauten Kinder war. War schon die soziale Isolation fragwürdig, so setzte die mangelnde kognitive Förderung ein zusätzliches Fragezeichen hinter diese besondere Schulform für die »Kellerkinder« (Wocken).

Und wie war es dann in Frankfurt an der Uni? Gab es Lehrstühle für Lern­behindertenpädagogik auch in dem neugegründeten Sonderpädagogik-Institut? Und gab es eine Zusammenarbeit oder eher ein Gegeneinander der Professuren?

Strukturen
der Uni Frankfurt

In Frankfurt gab es drei Fachrichtungen, die sich in Professuren abbildeten: Lernbehindertenpädagogik, Erziehungshilfe und Pädagogik für Geistig Behinderte/Praktisch Bildbare. Frankfurt spezifisch waren eine Professur für psychoanalytische Pädagogik, eine Professur mit sozialpädagogischem Schwerpunkt sowie – erstmals in der BRD – eine Professur für berufliche Rehabilitation. Schließlich gab es meine Professur für »Soziologie der Behinderten« (später umbenannt in Professur für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Allgemeine Sonderpädagogik und Soziologie der Behinderten). Hinzu kamen wechselnde wissenschaftliche MitarbeiterInnen und pädagogische MitarbeiterInnen, zumeist sehr fähige Lehrkräfte aus der Praxis. Wir entwickelten gemeinsam ein die Frankfurter Ausbildung prägendes Curriculum. Um das gute Betriebsklima im Institut wurden wir am ganzen Fachbereich beneidet. Dennoch gab es wenig direkte Zusammenarbeit zwischen den Professuren, obwohl einige inhaltliche Überschneidungen vorhanden waren. Die Arbeitsbedingungen waren nicht auf Kooperation angelegt, auch standen manche Eitelkeiten und Konkurrenzen einem gemeinsamen Tun im Wege.

MitstreiterInnen

Auch bei mir dauerte es eine Weile, bis ich herausgefunden hatte, mit wem ich produktiv zusammenarbeiten wollte. Dies war Helmut Reiser. Wir waren uns einig in der Zielsetzung, die gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder im Team zu konzeptualisieren und voranzubringen. Gemeinsam mit Annedore Prengel verschafften wir uns in einem DfG-Forschungsprojekt einen Überblick über erste Schulversuche zur Integration in der BRD. In engagierten Diskussionen, die zuweilen bis in die Nacht andauerten, klärten wir unseren Theorierahmen und unser methodisches Vorgehen. Weder vorher noch nachher habe ich solch einen intensiven wissenschaftlichen Austausch erlebt.

Forschungsprojekt zu Integrationsklassen in Hessen mit Helmut Reiser

Anschließend übernahmen Helmut Reiser und ich die wissenschaftliche Begleitung der ersten Integrationsklassen in Hessen. Es handelte sich um ein fünfjähriges Forschungsprojekt (1985 bis 1990), in dem 15 Grundschulklassen über vier Schuljahre einbezogen waren.

Helmut hatte zuvor schon erste integrative Kindergärten in Hessen wissenschaftlich begleitet, gemeinsam mit drei Mitarbeiterinnen, die dann auch in der Schulbegleitung tätig waren. Der erste integrative Kindergarten in Hessen war derjenige der evangelischen französisch-reformierten Gemeinde in Frankfurt, er fand seine Fortsetzung in der Integrativen Schule, die neben drei staatlichen Schulen von uns begleitet wurden. Zu unserem breit gefächerten Forschungsdesign gehörten Untersuchungen zum Übergang vom Kindergarten in die Grundschule sowie Befragungen von Kindern, Eltern, Lehrkräften und Schulleitungen, in regelmäßigen Abständen über vier Jahre hinweg. Im Mittelpunkt aber standen Unterrichtsbeobachtungen, wobei wir ausgewählte Kinder besonders im Blick hatten. Alle Unterrichtsbeobachtungen wurden mit den LehrerInnen zeitnah rückgekoppelt und diskutiert, sodass sie ihren Unterricht weiter entwickeln konnten.

Das finde ich ja ganz spannend, dass es nicht so ein Ansatz ist, wie eben empirische Forschung oft heute, wir gucken den Lesescore am Anfang und den Lesescore am Ende an und sagen dann, ja Integration funktioniert oder eben nicht, sondern dass es die viel engere Beziehung zwischen wissenschaftlicher Begleitung und Lehrkräften gab. Das finde ich ganz interessant, das ist in den anderen Interviews immer wieder aufgetaucht.

Nähe zu den Lehrkräften

Es war in der Tat unser Anspruch, Handlungsforschung zu betreiben. Die LehrerInnen unterrichteten die Klassen während der ganzen Zeit von Montag bis Freitag und über’s Jahr hinweg. Sie kannten die Kinder viel besser als wir, die wir nur periodisch anwesend waren. Wir konnten nur rückmelden, was sich situativ in bestimmten Konstellationen oder Momenten abspielte. Die LehrerInnen konnten vieles besser einschätzen als wir. Die wissenschaftliche Distanz ermöglichte es uns allerdings auch, Fehlentwicklungen oder Schwierigkeiten wahrzunehmen und die Lehrkräfte darauf hinzuweisen. Diese wiederum konnten in gegenseitigem Vertrauen formulieren, warum sie so und nicht anders gehandelt haben. Beides tat dem Unterricht gut.

Unterschiedliche didaktische Wege in den Integrationsklassen

Bei der Entwicklung des Unterrichtes in drei integrativen Klassen des Einschulungsjahrgangs 1986 haben wir drei unterschiedliche didaktische Wege beobachtet:

  • ? Eine Großgruppen-Kleingruppenstruktur, die vor allem ab dem 3. Schuljahr dominierte. (Grundschulkinder versus Kinder mit Förderbedarf). Gemeinsamkeit für alle SchülerInnen wurde vor allem über musische und kreative Tätigkeiten hergestellt.
  • ? Eine flexible Struktur über vier Schuljahre hinweg mit kontinuierlich zunehmenden fachspezifischen Leistungsanforderungen. Freie Arbeit wird im Verlauf der Grundschulzeit – vor allem in den Kernfächern – zum Kristallisationspunkt der Unterrichtsgestaltung. Ein anregendes Lernklima, das mitunter Werkstattcharakter annimmt, fördert die Eigenverantwortung für den Lernprozess und das Gruppengeschehen. Gemeinsamkeit wird vor allem über die Einführungsphasen für übergreifende Themen hergestellt.
  • ? Eine individualisierte Betreuung in der Gemeinschaft. Das pädagogische Profil ist vor allem durch Wochenplanarbeit geprägt, die zunehmend der Bewältigung fachspezifischer Leistungsanforderungen dient. Gemeinsamkeit wird über den Morgenkreis und in der Ausrichtung des Unterrichtes an kreativen Ausdrucks- und Bearbeitungsformen hergestellt.

 

In allen beteiligten Klassen fielen die Untersuchungsergebnisse überwiegend positiv aus. Zwischen den verschiedenen Unterrichtsformen gab es allenfalls graduelle Unterschiede. Die sozialen Beziehungen der Kinder untereinander waren von ausgeprägter Akzeptanz und blieben sehr stabil, trotz abnehmender unterrichtlicher Gemeinsamkeiten im Verlauf der vier Schuljahre. Das Leistungsprofil der Kinder entwickelte sich sukzessive auseinander, der Übergang in weiterführende Schulen bereitete den nichtbehinderten Kindern keine größeren Schwierigkeiten als in regulären Klassen. Etliche der behinderten Kinder mussten hingegen auf Sonderschulen wechseln, weil die Integration in der Sekundarstufe I noch nicht realisiert war.

Besonderheiten der Modellphase

Die überwiegend positiven Ergebnisse trotz unterschiedlicher pädagogischer Konzepte haben wir mit der Zeit des Aufbruchs erklärt: Eltern behinderter wie nichtbehinderter Kinder kämpften für die gemeinsame Schule, nachdem sie in den Kindergärten gute Erfahrungen gemacht hatten. Von den Grundschulen bewarben sich solche für die ersten Modellklassen, die bereits Erfahrung mit dem Unterricht in heterogenen Gruppen hatten. Innerhalb der Schulen meldeten sich die Lehrkräfte, die der Vision der einen Schule für alle anhingen und sich für deren Umsetzung tatkräftig engagierten. Die Doppelbesetzung der Modellklassen mit zwei Lehrkräften war für sie zusätzlicher Anreiz. Die wissenschaftliche Begleitung sahen sie als Unterstützung ihrer Arbeit an. Diese Aufbruchsstimmung, diese Lust auf etwas Neues, überdauerte die ersten Jahre nicht sehr lange. Insofern sind die Ergebnisse unserer Forschungen nicht typisch für die Ausbreitung der Integration in der Fläche.

Und die Gesamtschulen, wie haben die sich entwickelt? Du hast ja gesagt, das war für dich mit der Ansatzpunkt für eine Überwindung des gegliederten Schulwesens. Haben sie sich parallel zur Grundschule für die Integration geöffnet oder folgten sie der Grundschule nach?

Integrierte
Gesamtschule

Parallel entwickelten sie sich nicht, sondern im Anschluss an die Grundschule. Hier war es wiederum das Engagement der Eltern, das den Ausschlag gegeben hat. Spätestens Ende des 3. Schuljahres setzten sie sich mit weiterführenden Schulen – zumeist Gesamtschulen – in Verbindung, sprachen bei den Schulämtern vor, weil sie wollten, dass ihre Kinder auch nach dem vierten Schuljahr zusammenbleiben. In Frankfurt hat sich 1989 eine Integrierte Gesamtschule bereit erklärt, die Kinder aus zwei der von uns beforschten Grundschulen aufzunehmen. Für sie ging es dann bruchlos weiter. Bruchlos hieß nicht problemlos. Die Eltern der behinderten Kinder wussten bis drei Tage vor Schuljahresanfang nicht, ob ihre Kinder aufgenommen werden oder nicht, das waren hochdramatische Situationen. Schließlich waren sie erfolgreich und die Schule ist seither und bis heute die Integrierte Gesamtschule mit der längsten Tradition in der Unterrichtung von Kindern mit und ohne Behinderung in Hessen.

Und die wissenschaftliche Begleitung ging dann auch weiter?

Auslaufen der Begleitforschung

Nein, die ging leider nicht weiter. Der Modellversuch in der Grundschule war einschließlich der wissenschaftlichen Begleitung vom Hessischen Kultusministerium finanziert worden. Die Beforschung der Integrationsklassen in der Sekundarstufe I wurde dann nicht mehr für nötig befunden, obwohl es ja eigentlich die schwierigere Phase für die jungen Menschen ist.

Welche eigenen Interessenschwerpunkte waren für dich besonders wichtig?

Was meinst du jetzt mit Interessenschwerpunkten?

Einzelne KollegInnen haben sich halt mehr auf Kinder mit Schwerstmehr­fachbehinderung konzentriert oder andere eher auf bestimmte Teilaspekte oder Übergänge oder so etwas. Also gab es etwas, von dem du gesagt hast, da guckst du besonders drauf?

Benachteiligung durch Armut

Wie ich bereits sagte, trieb mich die Frage um, ob die Kinder aus Armutsmilieus genügend berücksichtigt wurden oder Integration ein typisches Anliegen des Bildungsbürgertums war.

Integration als Mittelschichtsphänomen

Die Elternbewegung für Integration hatte die Kellerkinder nicht immer im Blick. Sie rekrutierte sich eher aus der Mittelschicht mit akademischem Hintergrund und engagierte sich für ihre Kinder mit geistiger, körperlicher oder Sinnesbehinderung. Um Kinder mit gravierenden Sozialisationsdefiziten und entsprechenden Schulschwierigkeiten kümmerte sich niemand so richtig. Deren Eltern kamen höchst selten in die Schule, pflegten kaum Kontakt zu den LehrerInnen ihrer Kinder. Häufig hatten sie genug mit sich selbst zu tun.

Mythos Sonderschule als besserer Ort der Förderung

Die Lehrkräfte in den Grundschulen waren es, die nicht umhin kamen, sich auch mit schwierigen Kindern auseinanderzusetzen, sie im Klassenverband zu unterrichten. Bei ihnen überwog jedoch, jenseits der Integration, mehrheitlich der für Deutschland typische Aussonderungsblick. Da es eine spezielle Schule für Lernbehinderte gab, hatten sie die Möglichkeit, Kinder mit Lernschwierigkeiten aus der Regelschule auszuschulen und in die Sonderschule zu überweisen. Und dies häufig im Glauben, den Kindern damit Gutes zu tun. Gero Lenhardt hat in einem bemerkenswerten Aufsatz 2002 (»Die verspätete Entwicklung der Schule«, in: Pädagogische Korrespondenz 29, S. 5–22) von der »kollektiven Melancholie« gesprochen, die das deutsche Schulwesen kennzeichne, während in den Ländern, in denen die Gesamtschule zur Regelschule wurde, der Optimismus der Pädagogik und Demokratie vorherrsche, der grundsätzlich jedem Kind Bildungsfähigkeit attestiert. Das deutsche Bildungswesen bewegte sich offenkundig in einem Teufelskreis: »Die Selektion erzeugt das Problem, das sie lösen soll, indem sie den schwächeren Schülern Bildungsmöglichkeiten entzieht. Ihre Leistungsschwäche wird zum Anlass für zusätzliche Selektion« (Lenhardt, S. 19). Diesen Teufelskreis zu durchbrechen, die Rückständigkeit des deutschen Schulwesens zu überwinden, war für mich ein zentrales Motiv, mich für die eine Schule für alle einzusetzen – wissenschaftlich und politisch. Sicherlich kann Schule nicht eine andere, eine bessere Welt produzieren, aber sie kann Unterschiede zwischen Reich und Arm egalisieren, durch gemeinsames Lernen der Kinder und Jugendlichen in der Schule. Dieser Prozess ist in anderen Ländern – zum Beispiel in Skandinavien – besser vorangekommen als bei uns. Die Defizitperspektive aus den Köpfen der beteiligten Akteure zu verbannen ist in Deutschland durch Integration und Inklusion teilweise gelungen, allerdings bis heute weder umfassend noch flächendeckend. Noch immer ist das gegliederte Schulwesen das vorherrschende, wenn auch die Hauptschule an Bedeutung verloren hat. Statt eines fünfgliedrigen Schulsystems setzt sich in der Sekundarstufe I mehr und mehr ein zwei- bis dreigliedriges durch: das Gymnasium und die Schule für alle anderen Schulformen, wobei die Sonderschule in den meisten Bundesländern weiterhin als dritte Säule existiert, auch die Schule für Kinder mit Lernhilfebedarf. Das Demokratiedefizit besteht also weiterhin, wenn auch in modifizierter Form.

Und wann ist es gelungen, Kinder aus Armutsverhältnissen dann tatsächlich miteinzubeziehen? Also du hast gesagt, die Elternbewegungen waren ja auch eher die Eltern aus Akademikerhaushalten. Habt ihr das dann in den Modellversuchen irgendwie noch verstärkt mit aufgegriffen?

Schule im Brennpunkt

Eine unserer Schulen in der wissenschaftlichen Begleitung liegt in Mitten eines sozialen Brennpunkts, mit vielen Flüchtlingskindern, die kein Wort Deutsch konnten. Manche waren bereits acht oder neun Jahre alt, als sie in die hiesige Schule kamen. Die LehrerInnen haben sich schon vor Einrichtung der ersten Integrationsklassen sehr stark mit der Frage beschäftigt, wie sie diese Kinder motivieren können die Sprache zu lernen und Spaß am Lernen zu entwickeln. Sie haben sich also schon früh den Anforderungen einer heterogenen Gruppe gestellt, sodass die Hereinnahme von Kindern mit Behinderungen für sie eine zusätzliche Herausforderung, jedoch nichts völlig Neues darstellte. Nach unseren Beobachtungen ist es den Lehrkräften in dieser Schule gut gelungen, Kinder aus randständigen Familien willkommen zu heißen und sie adäquat zu fördern. In den anderen wissenschaftlich begleiteten Schulen standen eher Kinder mit Downsyndrom, mit einer Hörbehinderung oder auch mit Mehrfachbehinderungen im Fokus, die Armutskinder waren weniger vertreten und auch nicht besonders beachtet worden.

Welche MitstreiterInnen waren für dich besonders wichtig so in den letzten 30/40 Jahren?

MitstreiterInnen

Neben Helmut Reiser und Annedore Prengel waren es unsere drei Mitarbeiterinnen in der wissenschaftlichen Begleitung, Gabriele Cowlan, Gisela Kreie und Maria Kron, mit denen wir über Jahre hinweg in kontinuierlichem Austausch waren. Alle drei verfügten über spezifische Kompetenzen, die sie in die Arbeit einbrachten. Gemeinsam entwickelten wir die Theorie integrativer Prozesse, mit der unsere Forschungsergebnisse unterlegt waren. Hierarchie spielte in der Zusammenarbeit nur eine untergeordnete Rolle. Über Frankfurt hinaus entwickelte sich allmählich ein Netzwerk der ForscherInnen, die in unterschiedlichen Bundesländern Modellklassen in Grundschulen wissenschaftlich begleiteten.

Integrations­tagungen

Ab 1987 trafen wir uns jährlich, um über Forschungsmethoden und Theoriebildung und – nicht zuletzt – unser Politikverständnis zu diskutieren. Wichtige Diskussionsstränge aus dieser Zeit sind in dem seit 1988 von Hans Eberwein in sechs Auflagen herausgegebenen Handbuch zur Integrationspädagogik abgebildet. Aus den Treffen der wissenschaftlichen Begleitungen wurden im Verlauf der Zeit Integrationstagungen, die Integrationstagungen mutierten zu Tagungen der Inklusionsforscherinnen und -forscher in deutschsprachigen Ländern. Seit 2002 sind diese Tagungen dokumentiert. Etliche ForscherInnen aus den ersten Jahren sind noch heute dabei und in dem vorliegenden Band versammelt.

Welche MitstreiterInnen waren mir außerhalb Frankfurts wichtig? Es waren etliche aus den Anfangsjahren, jeder und jede mit einem besonderen Profil. Jakob Muth, der Älteste unter uns, war ein bisschen der Übervater. Er hatte ja bereits 1973 an den legendären Bildungsratsempfehlungen mitgearbeitet, in denen erstmalig eine enge Verzahnung von Sonderschulen und allgemeinem Bildungswesen gefordert wurde. Alfred Sander vertrat mit seinen Saarbrücker KollegInnen (Hans Meister, Irmtraud Schnell u. a.) den ökosystemischen Ansatz, gleichzeitig war er ein begnadeter Moderator, wenn es um Kontroversen zwischen den wissenschaftlichen Begleitungen ging. Aus Berlin kamen Jutta Schöler mit besonderer Nähe zur Integrationsbewegung in Italien, Ulf Preuß-Lausitz mit großem Einfluss auf die Bildungspolitik in Berlin und einigen Bundesländern, sowie Rainer Maikowski, der die gemeinsam entwickelten Vorstellungen in der Berliner Senatsverwaltung auf den Weg brachte. Aus Hamburg kamen Hans Wocken und Andreas Hinz, der eine mit besonderem Blick auf die »Kellerkinder«, der andere frühzeitig mit der Abkehr von dem Etikett »behindert« oder »nichtbehindert« und stattdessen inklusiv unterwegs – gemeinsam mit Ines Boban. Georg Feuser aus Bremen insistierte immer wieder auf einer schlüssigen Theorie, der von ihm ausgearbeiteten entwicklungslogischen Didaktik. Aus dem Kreis der Lehrkräfte an den ersten Integrationsschulen wechselten einige an Hochschulen, so zum Beispiel Andrea Platte, oder an integrationsfreundliche Stiftungen, so Barbara Brokamp. Auch in den Kultusverwaltungen der Länder fanden sich MitstreiterInnen für eine Verbreitung Gemeinsamen Unterrichts in der Fläche. Aus Schleswig-Holstein kam Christine Pluhar, die innerhalb der Schulverwaltung unter wechselnden KultusministerInnen konsequent und nachhaltig schulische Integration auf allen Stufen des Bildungswesens realisierte. So entstand ein Netzwerk, das über die Hochschulen hinaus reichte und – selbstredend – noch weitere engagierte Menschen umfasste.

Zu den MitstreiterInnen der letzten 30–40 Jahre gehört natürlich auch die nachgewachsene Generation. Für mich besonders wichtig war und ist Vera Moser, ehemals Studentin in Frankfurt, heute Professorin in Berlin. Obwohl in der Sonderpädagogik verortet, ist es ihr gelungen, Inklusion theoretisch in der Erziehungswissenschaft (Schwerpunkt: Professionstheorie) einzubinden. Diskussionen mit ihr waren und sind immer höchst anspruchsvoll und anregend. Auch Dieter Katzenbach kommt aus Frankfurt und ist hierher nach Jahren in Hamburg, in denen er mit den integrativen Regelklassen befasst war, zurückgekehrt. In Finnland haben wir gemeinsam eine Variante auf dem skandinavischen Weg des gemeinsamen Lernens erkundet. Irmtraud Schnell hat ihre saarländischen Erfahrungen in den letzten 12 Jahren in Frankfurt eingebracht und damit Integration/Inklusion in Lehre und Forschung vertieft und erweitert. Einen großen Gewinn stellte für mich auch Ute Geiling dar, die nach der Vereinigung von BRD und DDR zu uns stieß, ein Semester als Vertretungsprofessorin in Frankfurt war und heute in Halle residiert. In der Integrationsdebatte in Westdeutschland spielte das Bildungswesen in der DDR keine bedeutsame Rolle. Es wurde die Chance vertan, auf Erfahrungen aus der Einheitsschule im Sekundarbereich (Politechnische Oberschule) zu rekurrieren, sie zumindest als Anstoß für eine Ausweitung der Gesamtschulbewegung in der BRD zu begreifen. Erste Modellklassen für behinderte und nichtbehinderte Kinder wurden in Brandenburg eingerichtet – mit Unterstützung westdeutscher Kolleginnen. Durch die »Wende« gewonnen aber haben wir MitstreiterInnen wie Ute, die ganz uneitel, aber mit hohem pädagogischem und wissenschaftlichem Anspruch die Integrationsdebatte in Theorie und Praxis bereicherten. Auch ihr zuweilen kritischer Blick auf westdeutsche Diskussionskultur hat uns gut getan.

Austausch unter
den ForscherInnen

Doch lass mich zurückkommen auf die ersten Zusammentreffen der wissenschaftlichen Begleitungen in den 1980er Jahren – die sogenannten »Busfahrertagungen«. Diese waren durch intensive Diskussionen geprägt. Es gab inhaltliche Kontroversen über Theorien und Forschungsansätze, es gab Konkurrenzen um das bessere Konzept, sie überlagerten jedoch nicht das gemeinsame Anliegen, Integration voranbringen und zwar mit den Mitteln, die uns als WissenschaftlerInnen an den Hochschulen zur Verfügung standen. Einige von uns verfügten zur damaligen Zeit über günstige Forschungsbedingungen. In Frankfurt hatten wir drei volle Mitarbeiterstellen, sodass wir ein umfangreiches und vielschichtiges Instrumentarium einsetzen konnten, neben Interviews mit allen Beteiligten eine kontinuierliche Beobachtung von Kindern über vier Jahre hinweg. Die gute Ausstattung traf nicht auf alle Standorte zu, Methodenvielfalt prägte jedoch die meisten Untersuchungen. Unterrichtsbeobachtungen haben wir in Frankfurt besonders intensiv gemacht. Bei allen überörtlichen Treffen gab es genügend zu diskutieren, auch abzusprechen, wie und wo wir uns ergänzen können. Wir haben uns oft Zwischenergebnisse berichtet, die nicht veröffentlicht wurden, einfach um abzuwägen, ob wir uns in dem, was wir tun, aufeinander beziehen können. Das war für mich eine ganz wertvolle Erfahrung.

Du hast es schon ein bisschen angesprochen, aber welche Bezüge gab es zur Praxis, also jetzt über die Grundschule noch hinaus?

Vermittlung
von Studierenden

Nachdem die wissenschaftliche Begleitung, die fünf Jahre dauerte (4 Schuljahre und ein Jahr zur Auswertung), ausgelaufen war, haben wir die Kontakte zu den Schulen nie abreißen lassen. Auch berieten wir die damals noch wenigen Schulen der Sekundarstufe, die den Gemeinsamen Unterricht weiterführten. Des Weiteren haben wir Studierende für Praktika vermittelt, für Examensarbeiten, die kleinere Forschungsprojekte darstellten. Eine umfassende systematische wissenschaftliche Begleitung konnten wir leider nicht mehr realisieren.

Politikberatung

Neben den Schulkontakten betrieben wir von Anfang an auch ganz stark Politikberatung. Sie gehörte zu unserem Verständnis von Handlungsforschung, nämlich selbst zur Entzerrung des gegliederten Schulwesens beizutragen. Wir wurden eingeladen in Kultusministerien, von Parteien, Elternverbänden, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, dem Deutschen Gewerkschaftsbund und so weiter. Mit der Elternvereinigung »Gemeinsam leben – gemeinsam lernen« arbeiteten wir eng zusammen.

Was waren aus deiner Sicht die größten Herausforderungen?

Inklusive Kulturen an allen Schulen entwickeln

Damals wie heute mangelt es in der Fläche an einer Schulkultur, die tatsächlich nicht nur verbal den Anspruch Integration/Inklusion vor sich herträgt, sondern mit Heterogenität produktiv umgehen kann. Viele Lehrkräfte sind in ihrem täglichen Tun bemüht, Komplexität zu reduzieren. Dazu gehört es, sich schwieriger SchülerInnen zu entledigen. Die »falschen« SchülerInnen in einer Klasse zu wähnen, ist ein sehr deutsches Phänomen, vor allem in der Sekundarstufe I. Schülergruppen möglichst homogen zusammenzustellen, erleichtert die Arbeit. Heterogenen Gruppen zu unterrichten bedeutet hingegen zunächst Mehrarbeit, mehr Absprachen zwischen den Lehrkräften, auch mit solchen, die nicht immer unbedingt miteinander können.

Teamarbeit als Herausforderung und Gewinn

Teamarbeit, das wissen wir aus unseren Forschungen, ist eine der schwierigsten Aufgaben in der Schule. Sie fordert heraus und bedeutet zunächst Mehrarbeit. Die LehrerInnen, die Teamarbeit seit Jahren praktizieren, berichten allerdings auch, dass Teamarbeit nach einer Zeit der Einarbeitung entlasten kann. Sie stehen dann nicht mehr als Vorturner alleine vor einer ganzen Klasse und müssen alle Kinder disziplinieren und im Griff haben. Stattdessen können sie Lernbegleiter, Lernberater sein, weil sie SchülerInnen in kleinen Gruppen oder alleine anleiten und ermutigen können, unterschiedliche Lernwege einzuschlagen.

Lernen ohne
Selektionsdruck

Lernen auf unterschiedlichen Niveaustufen wird immer dann zu einem Problem, wenn Übergänge von einer Schule zur anderen oder Schulabschlüsse anstehen. Das gilt in Deutschland besonders am Übergang nach der vierten Klasse in die Sekundarstufenschulen. Schon Anfang des dritten Schuljahrs stellen Eltern die besorgte Frage »Kann mein Kind auf das Gymnasium? Welche Schulform kann/wird es besuchen können?« Unter dem Druck bildungsbewusster Eltern werden oftmals Chancen vergeben, die das Lernen in heterogenen Gruppen eröffnet. Dass Kinder auch mal langsamer lernen, auch mal Umwege gehen, auch mal abseits des offiziellen Lehrplanes kreativ werden, gehört zu einem lebendigen Lernort Schule dazu.

Welche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte sollten aus deiner Sicht nicht in Vergessenheit geraten?

Schule verändern: eine Schule für alle

Priorität hat für mich die Schulstrukturdebatte. Wir werden oft gefragt, ob wir zuvörderst das ganze Schulwesen umstellen müssen, um dann inklusiv arbeiten zu können. Das würde ich nicht sagen, weil Inklusion dann auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wäre. Auch die Kinder, die heute zur Schule gehen, haben ein Recht auf guten Unterricht in der Gemeinschaft ihrer Klassenkameraden. Die Schulstruktur zu verändern, heißt, die eine Schule für alle auf den Weg zu bringen. Und das muss eine Ganztagsschule sein, in der alle Kinder mittun.

Ganztagsschulen

In Hessen wird gerade der Pakt für den Nachmittag zelebriert. Die Schule ist bis halb drei Uhr nachmittags zuständig, danach bis fünf Uhr die Stadt, die SozialpädagogInnen für Hausaufgabenbetreuung einstellt, Musikschulen und Turnvereine u. a. mit einbindet. Das alles verändert die Schule nicht grundlegend, weil nur ein Teil der SchülerInnen an diesen Angeboten teilnimmt. Schule zu verändern heißt, den ganzen Tag für alle zur Verfügung zu haben für gemeinsame Lernphasen, individualisiertes Lernen, Freiphasen, Spiel und sportliche Aktivitäten im Wechsel. Für Kinder mit besonderen Bedürfnissen (Lernproblemen) oder Kompetenzen (»Hochbegabte«) lassen sich im Ganztagsbetrieb Zeitleisten finden, in denen sie zusätzlich gefördert werden oder ihre Interessen ausleben können. Die gebundene Ganztagsschule für alle, das wäre für mich der erste Schritt zu einer inklusiven Schule.

Individualisiertes Lernen in der Gemeinschaft

Hinzu kämen klassen- und jahrgangsübergreifender Unterricht, der individualisiertes Lernen in der Gemeinschaft befördert – auch dies ist ein Rütteln an Schulstrukturen.

Längeres gemeinsames Lernen

Besonders wichtig erscheint mir ein längeres gemeinsames Lernen über das vierte Schuljahr hinaus. Der Zwang, SchülerInnen mit zehn Jahren (in wenigen Bundesländern mit zwölf Jahren) in unterschiedliche Schulformen zu sortieren, verfestigt bei den Lehrkräften einen Aussonderungsblick, der mit dem Glauben an ungleiche und bildungsresistente Begabungen einhergeht, und entmutigt SchülerInnen, die nicht den Sprung auf das Gymnasium schaffen. Mit dem Zurückfahren bzw. der Abschaffung der Hauptschule ist ein erster Schritt in Richtung einer Vereinheitlichung der Sekundarstufenbildung getan, die angestrebte Zweigliedrigkeit (ergänzt um das Sonderschulwesen) in den meisten Bundesländern zementiert allerdings die gesellschaftliche Spaltung zwischen bildungsorientierter Mittel- und Oberschicht einerseits und bildungsferner Unter- und Mittelschicht andererseits. Solange die Schule für Lernhilfe innerhalb des gegliederten Sonderschulwesens noch Bestand hat, gibt es auch noch die Schule der gesellschaftlich abgehängten Kellerkinder – in einer demokratischen Gesellschaft ein Skandal.

Gut, aber würdest du sagen, man kann so eine Zweigliedrigkeit irgendwie sinnvoll gestalten oder muss es auf die Abschaffung des Gymnasiums hinauslaufen aus deiner Sicht?

Die Gefahr des zweigliedrigen Schulsystems

Ich sehe in der Zweigliedrigkeit eine ganz große Gefahr, weil sie die Spaltung zwischen Reich und Arm, zwischen bildungsmotivierten und bildungsfernen Familien vertiefen wird, sodass man den Graben kaum noch überspringen kann. Soll Inklusion gesamtgesellschaftlich Wirkung zeigen, muss ein Weg gefunden werden, das Gymnasium mit einzubeziehen. Eine Chance besteht vielleicht in dem Starkmachen der zweiten Säule: der Gesamtschule bzw. Stadtteilschule. Wenn es gelingt, diese Schulen so zu entwickeln und auszustatten, dass sie auch für Kinder aus Familien, die auf Bildung großen Wert legen, attraktiv sind, könnte das Gymnasium in Bewegung geraten. Voraussetzung hierfür ist, dass beide Schulformen einen mittleren Abschluss ermöglichen und beide zum Abitur führen. Um eine Hierarchie der Schulformen zu verhindern, darf dem Gymnasium nicht erlaubt werden, schwache Schüler an die Gesamtschule abzuschieben. Das Gymnasium für die Tüchtigen, die Gesamtschule für die Schwierigen und Beladenen, das geht gar nicht.

Was waren die wichtigsten Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte, sowohl deine eigenen als auch von den Anderen der letzten Jahre?

Schule kann als Teil der Gesellschaft für Veränderungen sorgen

Eine existenzielle Erkenntnis ist sicher, dass die Schule ein Teil der Gesellschaft ist. Man kann mit Schule nicht die Gesellschaft grundlegend verändern. Schule kann sich nur bedingt gegen gesellschaftliche Verwerfungen stemmen, aber sie kann Schneisen ins Dickicht schlagen für Demokratie und Inklusion. Sie kann Modelle oder Perspektiven im Kleinen entwickeln, die sich vielleicht dann auch im gesellschaftlichen Großen und Ganzen einmal durchsetzen werden. Schule kann Anstoß geben für mehr Bildungsgerechtigkeit, für humaneres Umgehen miteinander, das denke ich schon. Und sie kann das nötige Wissen und Können vermitteln, das im späteren Leben hilfreich ist. Haben die SchülerInnen gelernt, Unterschiede im Lernen und Verhalten zu akzeptieren und als Ressource zu nutzen, werden sie auch in Beruf und Gesellschaft mit Unterschiedlichkeit besser zurechtkommen. Die inklusive Schule bietet hierfür gute Voraussetzungen

Auf der anderen Seite, wenn man sich das anschaut, sind ja bei diesen Netzwerkreisen, Blick über den Zaun und so weiter auch seit Jahren, Jahrzehnten immer dieselben Schulen wieder vertreten, oder? Also wenn man zur Gemeinschaftsschultagung geht, dann trifft man halt die üblichen

Verdächtigen, die sich auf den Weg gemacht haben, die eben diese progressive Richtung vertreten und wenn man bei vielen anderen guckt, dann ist es immer noch dieses klassische, »Einer steht vorne und hat Recht-Modell«.

Vorbildfunktion der »Leuchtturmschulen«

Ja, das ist so, das muss man leider konstatieren. Ich gehöre zu denjenigen, die etwas übrig haben für sogenannte Leuchtturmschulen. So lange die Bildung unterfinanziert ist und das vorhandene Geld im Gießkannenprinzip verteilt wird, besteht die Gefahr, dass Inklusion zu einem Sparmodell verkommt, an dem alle Beteiligten leiden. Weder gibt es genügend zusätzliche Lehrkräfte für doppelt gesteckte Stunden noch ist genügend Zeit und Raum für Lernarrangements in heterogenen Gruppen vorhanden. Fehlt es an Ressourcen, so haben Kinder und Eltern vielleicht mehr davon, wenn innerhalb einer Stadt einzelne Schulen besser ausgestattet werden und dann so etwas wie eine Vorbildfunktion einnehmen können. Voraussetzung ist ein genügend großes Engagement der ausgewählten Schulen, die Kinder in ihrer Verschiedenheit willkommen zu heißen, sie gut zu fördern, sie auch bei Schwierigkeiten zu halten und letztendlich zu guten Abschlüssen zu führen.

Dies finde ich spannend, die Frage ist ja, ob dann nicht die anderen Schulen drum herum immer sagen, ach sie haben ein Kind mit Behinderung, gehen sie doch lieber dahin, die machen das, wir haben ja eigentlich nichts damit zu tun.

Ressourcenbedarf einer »Schule für alle«

Da muss man immer abwägen, das ist richtig. Aber ehe alle so wenige Ressourcen haben, dass sie mehr schlecht als recht Schule machen, bin ich dann doch eher für eine gute pädagogische Ausstattung in inklusiven Schulen mit Vorreiterfunktion. Das kann keine Rechtfertigung dafür sein, dass man es dabei belässt und dann quasi Sonderschulen für pädagogische Vielfalt schafft, das auf keinen Fall. Es kann sich nur um Modelle handeln, die den Weg aufzeigen, in welche Richtung sich Schule entwickeln soll. Ganz am Anfang der Integrationsbewegung hieß es auf öffentlichen Veranstaltungen, das geht ja gar nicht, behinderte Kinder lernen nicht genügend und die nichtbehinderten Kinder werden in ihrer Entwicklung gebremst. Diese Meinung ist mittlerweile über Jahrzehnte widerlegt. Unterschiedliche Kinder können sehr gut miteinander lernen, das muss nicht mehr bewiesen werden. Allerdings müssen die Voraussetzungen stimmen: dazu gehört die passende Ausstattung, dazu gehört auch die Fähigkeit zu guter Teamarbeit, in der sich die LehrerInnen aufeinander einlassen können, dazu gehören hohe didaktische Kompetenzen im Umgang mit heterogenen Gruppen. Prinzipiell bleibt es dabei: Schule braucht mehr Ressourcen, um die eine Schule für alle umsetzen zu können.

Ja und man muss auch gleichzeitig aufpassen, dass man jetzt mit dem Ausbau nicht die Bedingungen für die kaputt macht, die bisher schon gute Arbeit leisten.

Ja, diese Gefahr besteht ganz real.

Welche Arbeiten in theoretischen Grundlagen erachtest du für besonders wichtig?

Unterschiedliche
theoretische Zugänge

In Frankfurt haben wir unsere Forschungen mit der Theorie integrativer Prozesse unterlegt, mit der sowohl innerpsychische Prozesse als auch institutionelle und gesellschaftliche Prozesse aufeinander bezogen und in eine dynamische Balance gebracht werden. Helmut Reiser rekurrierte auf das TZI-Konzept von Ruth Cohn, das er für integrative Prozesse in der Schule präzisierte. Mein Part bestand eher darin, gesellschaftliche Zustände, Bewegungen und Widersprüche herauszuarbeiten, die gemeinsames Lernen in einer Schule für alle behindern oder befördern. Politische Ökonomie, historischer Materialismus, Frankfurter Schule, Holzkamp, Heydorn fanden Eingang in unsere Diskussionen. Allerdings waren wir nicht der Ansicht, Integration/Inklusion sei nur mit einer Theorie erfassbar und machbar. Ebenso befassten wir uns mit dem ökosystemischen Ansatz aus dem Saarland, mit der entwicklungslogischen Didaktik von Feuser, dem Inklusionsbegriff von Hinz und anderen. Empirische Forschung benötigt ein theoretisches Fundament, um Ziel und Ausrichtung der Erhebungen bestimmen zu können, um Fragestellungen und Kriterien für den Forschungsprozess zu entwickeln. Dieses theoretische Fundament muss nicht für alle das gleiche sein, auch wenn wir das gleiche Ziel verfolgen – die demokratische Schule für alle zu begründen.

Gut. Gibt es empirische Forschungen, die du für besonders wichtig erachtest?

Forschungsberichte und Geschichte schulischer Integration

Nahezu alle erstmalig eingerichteten integrativen Klassen wurden in den entsprechenden Bundesländern wissenschaftlich begleitet (Berlin, Hamburg, Bremen, Hessen, Saarland, Schleswig-Holstein, nach 1989 auch in Brandenburg und Sachsen-Anhalt). Die mehr oder weniger ausführlichen Abschlussberichte liegen veröffentlicht vor. Sie sind zuweilen etwas sperrig ausgefallen, weil bis ins Kleinste dokumentiert wurde. Für den Aufwand, der dahinter steckte, sind sie recht wenig gelesen worden. Zusammen genommen stellen diese Berichte allerdings so etwas wie ein Fundament dar, auf dem spätere Forschungen aufbauten. Um die Anfänge der Integration nachvollziehen zu können, finde ich die Arbeit von Irmtraud Schnell zur Geschichte schulischer Integration besonders wichtig. Sie umfasst sowohl die theoretischen Grundlagen, die institutionellen und gesetzlichen Veränderungen, die Positionen von Parteien und Lehrerverbänden. Der Elternbewegung ist ein eigenes Kapitel gewidmet.

Was waren aus deiner Sicht die interessantesten Streitpunkte innerhalb der Community?

Diskussion über die Notwendigkeit eines gemeinsamen Therorierahmens

Streitpunkt war über Jahre offen oder latent die Frage, brauchen wir einen einheitlichen Theorierahmen, um unsere Forschungsergebnisse interpretieren zu können und eine inklusive Praxis zu begründen. Mehr oder weniger dogmatische Positionen standen eher offenen theoretischen Konstrukten gegenüber, sodass die empirischen Erhebungen in ihrer Reichweite unterschiedlich interpretiert wurden.

Qualitative vs. quantitative Forschung

Immer wieder ging es auch um das Verhältnis von quantitativer und qualitativer Forschung. In den wissenschaftlichen Begleitungen überwogen qualitative Forschungsmethoden in Form von Interviews und teilnehmenden Beobachtungen. Dennoch wurde auch quantitativ geforscht. Je größer der Druck seitens des Wissenschaftsbetriebes an den Hochschulen wurde, sich über quantitative Forschungsmethoden auszuweisen, umso größer wurde auch die Anzahl jüngerer WissenschaftlerInnen innerhalb der Integrationsbewegung, die dem vorherrschenden Trend huldigten.

Wie war es sonst aus deiner Sicht mit der Zusammenarbeit mit anderen pädagogischen Teilbereichen, bezogen auf andere Heterogenitätsdimensionen, Frauenperspektive, Disability Studies?

Inspiration statt Zusammenarbeit

1993 kamen zeitgleich zwei Bücher heraus, die beide großen Einfluss auf die Integrationsdebatte hatten: Die Pädagogik der Vielfalt von Annedore Prengel und die Heterogenität in der Schule von Andreas Hinz. Annedore analysiert die Bedeutung der Interkulturellen Pädagogik, der Feministischen Pädagogik und der Integrationspädagogik. Andreas widmet sich der Integration, der interkulturellen Erziehung und der Koedukation. Beide entwickeln einen je eigenen Differenzbegriff, der die Erkenntnisse aus drei pädagogischen Bewegungen zusammendenkt. Die Ausweitung der Heterogenitätsdimension über das sonderpädagogisch konnotierte Begriffspaar behindert/nichtbehindert hinaus, entsprach den praktischen Anforderungen der Schule und bereicherte die theoretische Grundlegung der Integrationsdiskussion. In Frankfurt konnten wir zudem auf die Forschungen von Isabell Diehm und Frank-Olaf Radtke zum Verhältnis von Erziehung und Migration zurückgreifen. Auch die Frauenforschung/Geschlechterforschung befruchtete unseren Diskurs, so die Arbeiten von Vera Moser, Isabell Diehm, Barbara Renthoff u. a. Besonders anregend war im Kontext der Integrationsforschung der Beitrag von Ulrike Schildmann, die in Dortmund eine Professur für Frauenforschung in der Behindertenpädagogik inne hatte und das Verhältnis von Normalität, Behinderung und Geschlecht bearbeitete. Nicht vergessen werden sollten auch die Forschungen der KollegInnen aus den Fachhochschulen. Sie erweiterten den Radius der Integrationsforschung über die Schule hinaus in die Gesellschaft hinein: von der frühkindlichen Bildung über die Kindertagesstätten hin zur beruflichen Eingliederung sowie der Integration im Gemeinwesen.

Gut. Welche zukünftigen Aufgaben und Herausforderungen siehst du für die Praxis?

Systemfrage

Dranbleiben an der Schulstrukturdebatte. Ob ein breit gefächertes Schulsystem, die Zweigliedrigkeit in der Sekundarstufe oder die eine Schule für alle, die Bildungslandschaft in Deutschland ist eine (bildungs-)politische Frage. Inklusion muss stets von neuem hart erkämpft werden. Und sie muss sich stets neu bewähren in Form eines guten Unterrichts für alle Kinder – die Mädchen und die Jungen, die sozial Privilegierten und die sozial Benachteiligten, die Einheimischen und die Migranten, die Flotten und die Bedächtigen, die Neugierigen und die in sich Gekehrten, die Behinderten und die Nichtbehinderten.

Gut. Welche zukünftigen Aufgaben und Herausforderungen siehst du für die Forschung? Was sollen wir noch machen?

Unterrichtsforschung in heterogenen Gruppen

Unterrichtsforschung bleibt auf der Tagesordnung, da Lehren und Lernen in heterogenen Gruppen noch immer für viele Lehrkräfte eine Herausforderung darstellt, besonders in der Sekundarstufe I. In der Grundschule gestaltet sich das Miteinander der Kinder überwiegend positiv, wie wir aus zahlreichen Begleitforschungen wissen.

Sekundarstufe

In der Sekundarstufe ist der gemeinsame Unterricht jedoch noch keineswegs ausgereift. Es fehlen Forschungen über Integrations- und Ausgrenzungsprozesse zwischen SchülerInnen ab Klasse 5, auch solche über LehrerInnen im Spannungsfeld von Fachvertretung und Lernbegleitung. Inklusiver Unterricht ist eine produktive Schul- und Unterrichtsform, sofern sie für die sogenannten Hochbegabten ebenso Angebote bereithält wie für Kinder, die Lernschwierigkeiten haben. Der Beleg, dass ein solcher Unterricht allen Kindern zugutekommen kann, ist in etlichen »Leuchtturmschulen« erbracht. Der Forschung obliegt es, die präzisen Bedingungen abzubilden, die für ein erfolgreiches gemeinsames Lernen gegeben sein müssen. Je mehr Inklusion zu einem Etikettenschwindel verkommt, umso mehr müssen wir auf Forschungen zur Qualität der Inklusion bestehen!

Ursachen für den Fortbestand der Sonderschule

Auch bei der Schulstrukturforschung gibt es Nachholbedarf. So mangelt es zum Beispiel an Vergleichsforschungen zur Effektivität von Förderschulen und Regelschulen mit und ohne inklusiven Settings. Hans Wocken hat 2005 eine Studie vorgelegt zu Förderschülern in Brandenburg, Hamburg und Niedersachsen. Nach wie vor ist hiernach die Förderschule für Lernhilfe die Schule der Armen, der Arbeitslosen, der Sozialhilfeempfänger. Und: Je länger ein/e SchülerIn in der Förderschule zugebracht hat, desto schlechter sind seine/ihre Leistungen und Intelligenztestwerte. Wocken erklärt diese deprimierenden Ergebnisse mit einem dreifachen Reduktionismus: didaktisch, methodisch und sozial. Warum es diese Schulform noch immer gibt, wäre eine höchst spannende Forschungsfrage.

Im Moment müssen wir uns wohl vordringlich fragen, ob inklusives Lernen unter den deutlich schlechteren Bedingungen immer noch funktioniert.

Qualität gemeinsamen Lernens

Ja, das stimmt. Einerseits hat sich mit der UN-Konvention ein Zeitfenster aufgetan, um der Bewegung für Inklusion einen Schub zu geben. Andererseits hat eben diese Konvention in Deutschland einen Prozess in Gang gesetzt, der Bildungsprozesse grundsätzlich als inklusiv etikettiert und damit den Gedanken der Inklusion substanziell entwertet. Lehrkräfte in Grund- und weiterführenden Schulen betonen, dass sie schon immer unterschiedliche SchülerInnen unterrichtet haben und dies seit 150 Jahren! So wird Inklusion zum Abklatsch unserer ursprünglichen Vorstellungen und noch dazu zu einem Sparmodell, welches einem guten Unterricht für alle den Boden entzieht. Gemeinsamer Unterricht – Integration – Inklusion: dieser Dreischritt landet nicht in der einen Schule für alle, sondern in einer Fallgrube, die keine zukunftsweisenden Perspektiven eröffnet. Umso wichtiger sind für die Umsetzung der UN-Konvention Forschungen zur Qualität inklusiver Lehr- und Lernprozesse, einschließlich struktureller Rahmenbedingungen, die unabdingbar sind.

Und in wieweit siehst du die Gefahr, dass es eben dann durch die UN-Konvention wieder zur Begrenzung auf die Dimension Behinderung kommt? Siehst du da die Gefahr oder nicht so?

Fokus auf die Dimension Behinderung

Die UN-Konvention ist vorab auf Menschen mit Behinderung fokussiert. Inklusion beinhaltet demgegenüber mehr als die Zuschreibung behindert oder nichtbehindert. Sie betont die Verschiedenheit und Vielfalt menschlicher Existenz. In der einen Schule für alle wird diese Unterschiedlichkeit als Ressource begriffen, die den Unterricht und das Zusammenleben bereichert. Dies allerdings nur dann, wenn sich die heute noch vorherrschende Schulkultur ändert und zusätzliche Unterstützungssysteme eingerichtet werden. Zur Schulkultur: Lernschwache oder störende Kinder werden häufig als diejenigen etikettiert, die den Unterricht aufhalten, anderen Kindern und LehrerInnen das Leben erschweren, ein gedeihliches Zusammensein hemmen. Folglich werden sie aussortiert in Schulen für Lernhilfe oder Erziehungshilfe, wo sie auf ihresgleichen treffen. Eine inklusive Schulkultur mustert nicht aus, sondern beherzigt den Grundsatz: alle Kinder aus dem Einzugsbereich der Schule gehören zu uns!

Ressourcenbedarf für Nichtaussonderung

Allerdings müssen die Rahmenbedingungen so sein, dass jedes Kind als Einzelnes und in der Gruppe gefördert werden kann. Hierzu bedarf es zusätzlicher personeller und sachlicher Ressourcen in der Regelschule. Das vielfach beklagte Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma zwingt die Schulen, einzelne Kinder zu »überprüfen« und als förderbedürftig zu etikettieren. Nur so können die Schulen zusätzliche Mittel bekommen. Unzählige Förderausschüsse binden zu Beginn eines jeden Schuljahres große Kapazitäten von Schulleitungen, Lehrkräften und Eltern. Einer inklusiven Schulkultur ist zweifellos mehr durch systembedingte Zuweisungen zusätzlichen Personals gedient, zum Beispiel ein bis zwei sonderpädagogische Lehrkräfte pro Klassenstufe. Hier können die Schulen selbst entscheiden, in welcher Klasse und für welches Kind Handlungsbedarf besteht.

Koexistenz von Sonderschulen und Gemeinsamen Unterricht

Das Nebeneinander von Sonderschulen und inklusiven Klassen ist zweifellos das teuerste System und zementiert zudem den (Irr-)Glauben an die Vorteile separierender Systeme. Die UN-Konvention ist Anlass genug für eine politische Willensbildung, wohin die Reise gehen soll. Sie in Deutschland zu realisieren, würde nicht nur den Kindern mit Behinderungen, sondern auch allen anderen Kindern die Chance eröffnen, ihren je individuellen Voraussetzungen entsprechend gefördert zu werden.

Welche internationalen ForscherInnen waren für dich am bedeutsamsten?

Italien

Da fallen mir spontan Adriano Milani-Comparetti und Ludwig-Otto Roser ein. Milani-Comparetti war Partisan, Kinderarzt, Neurologe und Psychiater, Spezialist der Neuromotorik und Direktor verschiedener Rehabilitationseinrichtungen in Florenz, so Ludwig-Otto Roser, der als Psychologe den italienischen Weg der Inte­gration gemeinsam mit Milani-Comparetti beschritten hat. 1957 eröffnete in Florenz das Centro Anna Torrigiani, ein geschlossenes Zentrum für Körperbehinderte. Dies stellte gewiss einen Fortschritt gegenüber früheren Zeiten dar, in denen Menschen mit Körperbehinderungen nur dürftig versorgt wurden. Im Zuge gesellschaftlicher Um- und Aufbrüche in Italien, insbesondere im Zuge der Psychiatriereform – eng verbunden mit dem Namen Basaglia – öffnete Milani-Comparetti das Zentrum hin zu Familie und Gesellschaft und etablierte eine Medizin, die nicht den Defekten den Vorrang gab, sondern den schöpferischen Fähigkeiten eines Kindes, sich selbst zu konstruieren und auf die Umwelt Einfluss zu nehmen. Die Möglichkeiten des Kindes, Vorschläge zu machen, dienten als Basis für einen Dialog zwischen Kind und Arzt/Therapeuten, nicht länger das Reiz-Reaktions-Schema. Behandlung sollte auf das unbedingt Unerlässliche reduziert werden, stattdessen galt es Normalität und Autonomie zu fördern. Mit diesem Ansatz stieß Milani-Comparetti auf erbitterten Widerstand der etablierten Medizin, gewann aber im Laufe der Zeit junge Ärzte, Psychiater, Psychologen und Therapeuten für sich.

Zu ihnen gehörte der Psychologe Ludwig-Otto Roser, dessen Credo es war: Tüchtig ist nicht, wer mehr leistet als andere, sondern der, der alles das leistet, was ihm möglich ist. Dieser Satz wurde zum Leitspruch für viele der ersten Klassen mit Gemeinsamem Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinder. Jutta Schöler hat dem Wirken Ludwig-Otto Rosers ein Buch gewidmet: Normalität für Kinder mit Behinderungen: Integration (1998). Roser hielt in Deutschland viele Vorträge und lud uns nach Florenz ein. Er hatte bedeutenden Einfluss auf die Integrationsbewegung bei uns. Dennoch blieb die Skepsis groß gegenüber einem Ansatz, der nicht mehr den Defekt in den Mittelpunkt stellte, sondern ein Leben in der Normalität. Um die in Italien entwickelten Ideen bei uns weiter zu verbreiten, verabredeten wir mit Adriano Milani-Comparetti eine Gastprofessur in Frankfurt nach seiner Pensionierung. Ich setzte mich im Fachbereich Erziehungswissenschaften und im Präsidium der Goethe-Universität vehement für diese Gastprofessur ein und bekam Unterstützung von anderen Universitäten. Nach Überwindung etlicher Widerstände wurde die Gastprofessur für das Sommersemester 1986 bewilligt und wir hatten die Veranstaltungen innerhalb und außerhalb der Universität schon sehr konkret geplant. Im April 1986 starb Adriano Milani-Comparetti mit 66 Jahren plötzlich an einem Herzinfarkt. Die Integrationsbewegung war geschockt, dennoch hat er – ebenso wie Ludwig-Otto Roser – dazu beigetragen, Ketten in unseren Köpfen zu sprengen.

Gut. Gibt es noch was, was ich vergessen habe, was ich noch hätte fragen sollen?

Veränderung der Praxis in Italien

Lass mich ergänzen: In Italien wurde 1977 ein Gesetz verabschiedet, dessen Paragraf eins lautet: »Alle Kinder gehen in die gleiche Schule«. In Deutschland wurde diese Möglichkeit allenfalls diskutiert, in Italien wurde die Praxis reformiert. Ähnliche Entwicklungen fanden in den 1970er Jahren in Skandinavien statt. Bei uns war der Aussonderungsblick unter Lehrkräften und Schulverwaltungen so ausgeprägt, dass es noch Jahre dauern sollte bis die ersten Integrationsklassen bundesweit eingerichtet wurden. Flächendeckend gibt es bis heute weder Integration noch Inklusion. Diesen Weg zu gehen, erfordert politischen Willen und Mut, weil er zweifellos schwieriger ist als das Wirken in abgeschlossenen Sondereinrichtungen. Dennoch sollten wir ihn beschreiten, denn – hier möchte ich noch einmal Roser zitieren – »die Sondereinrichtung ist Ausdruck von Angst und Pessimismus, Integration ist Ausdruck einer hoffenden, einer sich entwickelnden Welt«. Integration und Inklusion zielen ab auf eine friedliche und demokratische Gesellschaft mit egalitären Rechten und Teilhabemöglichkeiten für alle Menschen. Inklusionsforschung, die einen solchen Prozess befördert, tut not.